Endlich alle rein! Jugendverbandsarbeit in der Migrationsgesellschaft

Deutschland ist ein Einwanderungsland, das von den verschiedensten kulturellen Einflüssen profitiert, die das Land im Laufe der Geschichte geprägt haben. Trotzdem haben sich Politik und Mehrheitsgesellschaft vergleichsweise spät dazu bekannt, dass sie in einer Migrationsgesellschaft leben. Und noch immer haben in unserer Gesellschaft nicht alle Menschen die gleichen Chancen, weil Rassismus und Diskriminierung dies verhindern.

Transparent "Kein Mensch ist illegal"

Foto: Unsplash/Mika Baumeister

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Zuwanderung durch Anwerbeabkommen

Die nach wie vor ungerecht verteilten Teilhabechancen finden ihren Widerhall auch in den Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit. In den gesellschaftlichen Debatten der 1990er Jahre um das Thema Zuwanderung war noch die Vorstellung prägend, die sogenannten Gastarbeiter und ihre Familien würden perspektivisch in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Doch die Männer, die seit den 1950er Jahren im Zuge von Anwerbeabkommen zur Arbeit nach Deutschland gekommen waren hatten sich und ihren Familien ein Leben in Deutschland aufgebaut und wollten dieses fortführen. So, wie die zugewanderten das Land mit aufbauten und die wirtschaftliche Grundlage für die Prosperität der folgenden Jahrzehnte mit begründeten, bauten sie selbstgegründete Vereine und Kulturzentren zur Freizeitgestaltung und Unterstützung der verschiedenen Communities, ab den 1960er Jahren auch islamische Kulturvereine und Moscheen. Diese Vereinsstrukturen etablierten sich lange Zeit von der Mehrheitsgesellschaft unbeachtet und galten in deren Augen nicht als Orte legitimer demokratischer Partizipation.

Zuwanderungsgesetz: Neue Fragen nach gerechter Partizipation

Diese Wahrnehmung begann sich erst mit dem politischen Diskurs um die Reform des Zuwanderungsgesetzes zu ändern, das ab 2005 in Kraft trat. Mit der Reform hatten nun auch die Menschen Zugang zu Sprachkursen, denen diese zuvor jahrelang verwehrt geblieben waren und aufgrund von Anpassungen des Staatsbürgerschaftsrechts konnte ein Großteil der ehemaligen Gastarbeiter*innen und ihre Familien die deutsche Staatsangehörigkeit wählen. Erst ab diesem Zeitraum wurde für die Politik relevant, ob und inwieweit ehemals Zugewanderte und ihre Nachkommen an den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Strukturen partizipierten. Für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe hielt die damalige Bundesmigrationsbeauftragte Marieluise Beck in ihrem Bericht 2003 fest, dass Jugendverbände nur mangelhaft interkulturell geöffnet seien – und die Realitäten der deutschen Migrationsgesellschaft nicht abbildeten.

Interkulturelle Öffnung der Jugendverbandsarbeit

Dabei bezog sich die mangelnde interkulturelle Öffnung nicht nur auf die Mitgliedstrukturen der in den Jugendringen vertretenen Verbände. Vielmehr waren in den Reihen der Jugendringe auch nahezu keine Vereine aus migrantischen Communities vertreten, die in Selbstorganisation jedoch schon seit Jahrzehnten bestanden. Weil die mangelnde Repräsentation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund die demokratische Legitimation der Jugendarbeit in Frage stellte und eine umfassende Partizipation aller erhofft wurde setzen mit dem Beginn der 2000er Jahre unterschiedliche Initiativen an, gleichberechtigte Zugänge zu schaffen. Das im Jahr 2005 neu gegründete „Netzwerk interkultureller Jugendverbandsarbeit und –forschung“ (NiJaF), der Deutsche Bundesjugendring, Landesjugendringe und Jugendverbände selbst setzten fortan Projekte um, die die Partizipation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den jeweiligen Strukturen erleichtern sollten sowie bestehende Selbstorganisationen dabei unterstützen, sich als Jugendverbände zu etablieren.

Coachingprojekte der aej

Auch die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland (aej) führt mit dieser Zielstellung seit 2008 kontinuierlich Coachingprojekte durch.  Das erste Projekt „TANDEM – Bildungsförderung für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund“ konzentrierte sich darauf, die eigenen lokalen Jugendarbeitsangebote vermehrt für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund zu öffnen. Mit „Tandem II – Vielfalt gestalten!“ erfuhr das Projekt ab 2011 eine Fortführung, in deren Rahmen die Qualifizierung von Multiplikator*innen stärker in den Fokus rückte. Ab 2009 führte die aej zwei Coaching-Projekte durch, wobei das eine aus einer Kooperation mit christlich-ökumenischen Vereinen junger Migrant*innen und das zweite aus einer Zusammenarbeit mit dem Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ) bestand. Im Anschluss daran wurde von 2010-2012 das interreligiöse Projekt „Dialog und Kooperation!“ durchgeführt, bei dem lokal-regionale Zusammenarbeit zwischen Trägern der evangelischen und muslimischen Jugendarbeit angeregt wurde. Im Jahr 2015 begann das Folgeprojekt „Junge Muslime als Partner – FÜR Dialog und Kooperation! GEGEN Diskriminierung!“, in dessen Rahmen lokale Kooperationen mit den Partnerverbänden „Muslimische Jugend in Deutschland“, den DİTİB-Landesjugendverbänden Niedersachsen und Bremen sowie Jugendgruppen aus Moscheegemeinden des „Verband der islamischen Kulturzentren“ aufgebaut wurden. Aus den positiven Projekterfahrungen erwuchs schließlich ein weiteres Projekt, das zu Ende 2017 seine Arbeit aufnahm: Erstmalig konnten mit „JETZT erst recht! Religiöse Jugendverbände gestalten Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft“ auch vier halbe Stellen für Kolleg*innen aus den Partnerverbänden „Muslimische Jugend in Deutschland“, „Orthodoxer Jugendbund“, „Koptische Jugend in Deutschland“ und dem „Verband der islamischen Kulturzentren“ geschaffen werden. Dadurch wurde die Professionalisierung der ehrenamtlichen Partnerverbände maßgeblich gestärkt.
Im Rahmen der aej-Trägerschaft als Teil des „Kompetenznetzwerks Islam- und Muslimfeindlichkeit“ konnten drei volle Stellen bei den Partnerorganisationen „Muslimische Jugend in Deutschland“, „Muslimisches Jugendwerk“ und „Koptische Jugend in Deutschland“ geschaffen werden. Die Stelleninhaber*innen sind Teil des interreligiösen aej-Teams im Kompetenznetzwerk und nutzen die Stellen gleichzeitig, um ihre verbandlichen Strukturen weiter zu professionalisieren.

Aktuelle Herausforderungen

Aktuell besteht insbesondere für muslimische Jugendverbände eine große Herausforderung darin, sich in den Strukturen der etablierten Jugendverbandsarbeit zu etablieren, da sie zusätzlich mit Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus zu kämpfen haben. Muslimische Interessensorganisationen sehen sich gesamtgesellschaftlich einem starken Misstrauen und Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, was ihre überwiegend ehrenamtlichen Strukturen zusätzlich belastet. Auch sehen sich muslimische Jugendliche nach wie vor durch keinen religiösen Jugendverband auf Bundesebene vertreten, der ein Pendant zu den christlichen und dem jüdischen Jugendverband bieten könnte. Das bisher unverfasste „Bündnis muslimischer Jugendarbeit“ nimmt sich dieser Herausforderung an und sucht nach Wegen, die Stimmen der unterschiedlichen muslimischen Jugendverbände auf Bundesebene zu bündeln, um jugendpolitisch sprachfähig zu werden. Mit der Trägerschaft im „Kompetenznetzwerk zur Prävention von Islam- und Muslimfeindlichkeit“ unterstützt die aej die Bemühungen des Bündnisses und steht diesem beratend zur Seite.

Kontakt

Onna Buchholt
Projektleiterin für Kompetenznetzwerk Prävention Islam- und Muslimfeindlichkeit

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Über das NiJaf

Netzwerk

Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit

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Publikation

Teilhabe muslimischer Jugendverbände in Deutschland

Unter Mitwirkung von Autor*innen aus Wissenschaft und Jugendarbeit liefert die Broschüre einen Beitrag zum Abbau von Benachteiligung Jugendlicher mit muslimischer Identität und zur Versachlichung der Debatte um mehr Teilhabegerechtigkeit für muslimische Jugendliche und ihre Selbstorganisationen.