Warum wir eine rassismuskritische Perspektive brauchen
„In der Mehrheit der Bevölkerung haben sich Vorbehalte gegenüber Muslim*innen und ihrer Religion festgesetzt. Vorbehalte werden als solche häufig gar nicht mehr erkannt, weil sie über die Zeit für Tatsachen gehalten werden“, konstatiert Dr. Yasemin El-Menouar von der Bertelsmann-Stiftung. Und diese Vorurteile stellten eine Bedrohung für die Demokratie dar und zeigten sich „im Alltäglichen, im Vertrauten – möglicherweise in der eigenen Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der eigenen Gemeinde.“ Dort blieben sie oft unerkannt – oder unwidersprochen.
Bei der gemeinsame Fachtagung "Warum wir eine rassismuskritische Perspektive brauchen. Gesellschaftliche Verantwortung und Kirche." der aej der Evangelischen Akademie zu Berlin (EAzB) warfen Multiplikator*innen der Kinder- und Jugendarbeit und Vertreter*innen von Kirche und aus muslimischen Verbänden einen kritischen Blick auf Strukturen in Kirche und Jugendarbeit und diskutierten über eine notwendige rassismuskritische Perspektive.
Den Ausgangspunkt zu der Fachtagung bildete die repräsentative Studie zur Verbreitung islamfeindlicher Einstellungen unter jungen Menschen, die die aej als Partnerin im Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit (KNW-IMF) im vergangenen Jahr durchgeführt hat.
Neben der repräsentativen Stichprobe wurden explizit auch auch junge Menschen aller Mitgliedsverbände der Evangelischen Jugend befragt. Petra-Angela Ahrens vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD und Olga Janzen von der aej machten bei der Präsentation der Ergebnisse der Studie deutlich, dass die aej-Stichprobe im Vergleich zur repräsentativ-Stichprobe zwar insgesamt geringere Ausprägungen von islamfeindlichen Einstellungen aufweist. Ausschlaggebend sind hier aber soziodemografische Faktoren sowie der Umstand, dass sich die Befragten der aej politisch als stärker links der Mitte einordnen. An Risikofaktoren für eine Zustimmung zu islamfeindlichen Einstellungen nannte Petra-Angela Ahrens eine stärkere Religiosität sowie insbesondere ein exklusives Religionsverständnis, das anderen Religionen jeden Wahrheitsgehalt abspricht.
Für aej-Generalsekretär Michael Peters folgt daraus die gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Jugend zur rassismuskritischen Selbstreflexion. Die Evangelische Jugend könne sich nicht aus der gesellschaftlichen Diskussionen um Rassismus heraushalten. Erste Schritte zur Einübung einer rassismuskritischen Perspektive in der Evangelischen Jugend sehe er primär in der Weiterbildung der hauptamtlichen Mitarbeiter*innen, gefolgt von ehrenamtlichen Gruppenleiter*innen und jugendpolitischen Gremien. Insgesamt müsse sich im Verband die Haltung etablieren, dass Rassismus nicht unwidersprochen bleiben könne, wenn er artikuliert werde.
Petra-Angela Ahrens ergänzte, dass die rassismuskritische Bildung in der Aus- und Fortbildung aller Mitarbeiter*innen verankert werden müsse, wenn kirchlichen Räume künftig diskriminierungsfrei gestaltet werden sollen.
Das Abschlusspodium, moderiert von Nathaly Kurtz, mit Dennis Sadik Kirschbaum von JUMA e.V., dem aej-Vorsitzenden Hansjörg Kopp, Lý-Elisabeth Dang, Theologin und Mitglied der EKBO Antira-Gruppe und Dr. Eske Wollrad, Theologin und Geschäftsführerin des Evangelischen Zentrums Frauen und Männer diskutierte, wie sich kirchliche Strukturen aus einer rassismuskritischen Perspektive aktuell beschreiben lassen und wie Lösungsstrategien aussehen könnten.
Dabei wurden schnell die unterschiedlichen Perspektiven deutlich: Während Lý-Elisabeth Dang wünschte, sich als christliche PoC „in kirchlichen Räumen wohler und gesamtgesellschaftlich überhaupt sicher fühlen zu können“, stellte Hansjörg Kopp fest, dass sich die Evangelische Jugend „aktuell noch im Stadium von Anerkennen, Lernen, Sprache einüben“ befinde. Er frage sich, wie der Verband von da zu einer echten rassismuskritischen Haltung kommen könne.
Für Eske Wollrad ist die Haltung christlicher Akteur*innen herausfordernd, die sich zu oft selbst als die Guten verstehen. Dies verhindere, eine rassismuskritische Perspektive einzunehmen und versperre den Blick auf eigene kritische Anteile. Dominanz und Deutungshoheit verbleibe damit bei Begegnungen mit Black, Indigenous and People of Color (BIPoC) immer auf der Seite der kirchlichen Akteur*innen. Dennis Kirschbaum appellierte an die Teilnehmer*innen der Fachtagung, Rassismus aktiv zu verlernen und dies als lebenslange Aufgabe zu verstehen.
Insgesamt machte die Fachtagung deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in strukturellen Rassismus und diskriminierende Alltagspraxen im kirchlichen Kontext noch am Anfang steht. Viele offene Fragen müssen von den unterschiedlichen Organisationsebenen der kirchlichen und Jugendverbandsstrukturen beantwortet werden.
Erfreulich ist jedoch, dass sich dem Thema der rassismuskritischen Öffnung bereits einige Akteur*innen angenommen haben und die Auseinandersetzung als wichtiges Lernfeld erkannt wurde.