Neue Kategorisierung und Stigmatisierung: von „behindert" zu „Risikogruppe"

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Statement des aej-Vorstands zur Inkluision in Zeiten von Corona

Im Jahr 2009 hat die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Dies und die seit langer Zeit existierenden Empowerment-Bewegungen von Menschen mit Behinderungserfahrungen sind Schritte, um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben umzusetzen. Diese geschieht langsam, aber stetig.

Seit Beginn der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Covid-19 Virus ist zu beobachten, dass inklusive Prozesse durch diese Maßnahmen massiv eingeschränkt und sogar gestoppt werden. Gesellschaftliche, inklusive Errungenschaften werden kaum beim Nachdenken über Schutzmaßnahmen reflektiert. Menschen mit Behinderungen werden nicht in Entscheidungen, die sie existenziell betreffen, einbezogen. Menschen mit Behinderungen werden pauschal als „Risikogruppe" eingeordnet, obwohl viele von diesen jungen Menschen gesundheitlich überhaupt nicht als solche zu bezeichnen sind.
Selbstbestimmung und mühsam erlernte Selbstständigkeit werden radikal dem Schutz untergeordnet. Die Gratwanderung zwischen Schützen und Ausgrenzen ist ein schmaler Pfad. Wer dachte, dass die Zeiten der Separierung mit dem Argument „wir wollen nur das Beste für dich" der Vergangenheit angehören, hat sich geirrt.

In der öffentlichen Debatte spielen junge Menschen mit Behinderung und deren Lebenslagen aktuell so gut wie keine Rolle. Die Schulen, Werkstätten und andere Aufenthaltsorte für Menschen mit Behinderung sind nur für Notbetreuungen geöffnet. Die sehr wichtige Tagesstruktur geht damit für viele verloren. Zudem sind junge Menschen mit Behinderungen in Wohngruppen und Einrichtungen der Behindertenhilfe isoliert und haben so gut wie keinen Kontakt zu Familie und Freundinnen. Das ist problematisch, weil diese Wohngruppen und Einrichtungen von den jungen Menschen häufig nicht frei gewählt sind, sondern es schlicht an Wahlmöglichkeit zu barrierefreien alternativen Wohnungsangeboten fehlt. Während der Großteil der Menschen in Deutschland zumindest selbständig einkaufen, spazieren gehen oder Fahrrad fahren kann, ist der Radius von vielen Menschen mit Behinderungen sehr eingeschränkt und aufgrund der Bestimmungen ist ein Aufenthalt in der Öffentlichkeit häufig nur noch in Begleitung möglich. Auch der Weg über die Digitalisierung ist für viele Menschen mit Behinderungen, insbesondere für diejenigen mit einer sogenannten geistigen Behinderung selten eine wirkliche Alternative. Viele haben - auch wegen fehlender Barrierefreiheit -nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu den neuen Medien bzw. deren Handhabung.

In der Krise beweist sich, welche gesellschaftlichen Debatten überfällig sind. Dies trifft momentan auch auf die Situation von Menschen mit Behinderungen und das Thema zu. Die Einforderung von Barrierefreiheit wird derzeit vielerorts abgelehnt mit der Haltung: Jetzt wo alles so angespannt ist, müssten Inklusionsmaßnahmen gerade zurückgestellt werden. Das zeigt: Die Grundhaltung, dass alle Personen gleichberechtigt dazugehören, hat bisher in unserer Gesellschaft nur marginal gewirkt und sich nicht in den Strukturen, im Menschenbild und in den Herzen grundlegend verankert.

Menschen mit Behinderungen müssen aktiv in die Diskussion um Öffnung und Rückkehr in die Normalität des gesellschaftlichen Lebens, in ein Alltagsleben mit Corona einbezogen werden. Ihre Interessen und Bedürfnisse sind ebenso zu berücksichtigen, wie der Schutz vor dem Covid-19 Virus. Die Umsetzung von Barrierefreiheit in allen Belangen des gesellschaftlichen Lebens ist weiter zu berücksichtigen und zu entwickeln - auch in Zeiten von Corona. Dazu zählen:

  • der Einsatz und die Finanzierung von Verdolmetschungen in Gebärdensprache
  • der Einsatz von Leichter Sprache und Piktogrammen
  • die Bereitstellung von barrierefreie Zugangsmöglichkeiten zu digitalen Inhalten und sozialen Medien
  • Lösungsmöglichkeiten für die Öffnung von schulischen und außerschulischen barrierefreien Bildungsorten
  • individuelle Lösungen zu Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten
  • die Bereitschaft, junge Menschen als Experten in eigener Sache kontinuierlich einzubeziehen
  • die Bereitschaft zur gesellschaftlichen Debatte über den Stand der Barrierefreiheit


29.05.2020
aej-Vorstand
Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e. V. (aej)
Otto-Brenner-Straße 9
30159 Hannover

 

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