Andachten aus Bibel AnDenken
Die Reihe "Bibel AnDenken" erscheint in gemeinsamer Herausgeberschaft der aej mit der Konferenz der Landesjugendpfarrerinnen und Landesjugendpfarrer in der Bundesrepublik Deutschland. Sie bietet Andachtsentwürfe, Materialien für Gruppenstunden und Freizeiten, Lieder, Informationen zur Jahreslosung und Monatssprüchen.

Andacht April 2025
Brennen
Sie weiß nicht, was sie geritten hat. Sie sitzt auf der Rückbank und spürt ihren Herzschlag. Ganz schön heftig. Eigentlich wollte sie den Zug nehmen, aber ihre Eltern haben darauf bestanden, sie hinzubringen. Vielleicht doch ganz gut, sonst wäre sie vermutlich gar nicht gefahren.
Ihr Mut hat sich verkrümelt. Sie hat richtige Angst. Unwillkürlich faltet sie die Hände und spricht ein lautloses Gebet. Das hat sie lange nicht mehr getan. Sie ist nicht sicher, ob Gott ihr überhaupt zuhört, nachdem sie ihn so lange aus dem Blick verloren hat. Aber es hilft ihr, den Druck loszuwerden, der ihr gerade das Atmen schwermacht. Was hat sie bloß getan?
Irgendwann im letzten Herbst hatte sie den Flyer gesehen: »In 5 Tagen um die Welt«. Fünf Tage Theater spielen mit anderen Jugendlichen. Es hatte bei ihr sofort »klick« gemacht, sie hatte keine Idee, warum. Aber dann hatte sie ihren Eltern in den Ohren gelegen, sie dort anzumelden. Sie, das schüchterne Mädchen, das im Unterricht kaum einen Satz herausbrachte; das nicht gehänselt, sondern einfach übersehen wurde, ein graues, stilles Mäuschen.
Jetzt ist sie sich nicht mehr so sicher. Ihr Herz hämmert: »Tu's nicht! Tu's nicht!« Ihr Mund ist trocken, das Gesicht blass. Sie bemerkt den besorgten Blick ihres Vaters im Rückspiegel. »Wir können immer noch umkehren!« Inka schüttelt den Kopf, obwohl ihr zum Heulen zumute ist. Dann biegen sie auf die Einfahrt zum Jugendhof ein. Auf dem Parkplatz stehen verschiedene Grüppchen herum. Anscheinend sind sie damit beschäftigt, jeweils eine Aufgabe zu erfüllen. Dazwischen bewegen sich einige Erwachsene in den wildesten Verkleidungen.
Kaum hält der Wagen, wird schon die Tür aufgerissen. »Ah, noch eine Weltreisende! Herzlich willkommen! Da vorne geht's zur Anmeldung.« Und schon ist die Person im Getümmel verschwunden.
»Das soll hier evangelisch sein?«, fragt ihr Vater. Ihre Mutter ist ebenfalls erschrocken. Langsam folgen sie dem Schild zur Anmeldung, wo es laut und turbulent zugeht. Ein Mann, in der Kluft eines Ballonfahrers, schwenkt eine Klobürste und treibt die Eintreffenden zur Eile an. »Nicht so lahm! Schreibt euch bitte dort hinten ein. Wir fliegen bald ab. Na los! Zack, zack!«
Inka ist überrumpelt. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Ihre Eltern anscheinend auch nicht. Sie scheinen zu überlegen, auf der Stelle umzukehren und mit ihr nach Hause zu fahren.
In diesem Moment kommt ein weiterer Erwachsener hinzu, einer, der nicht verkleidet ist. »Guten Tag! Machen Sie sich keine Sorgen. Das gehört schon alles zum Spiel. Ihre Tochter ist bei uns gut aufgehoben.« Er lächelt Inka freundlich an.
Ihre Eltern sind immer noch ein wenig skeptisch, aber auch ein gutes Stück erleichtert. Sie trägt sich in die Liste ein und unterschreibt. Dann wird ihr gesagt, wo sie übernachten wird. »Ich habe hier ein Zimmer mit fünf Betten. Eines ist noch frei. Bislang wohnen dort vier Mädels.
Möchtest du zu ihnen?« Inka nickt. Ihre Eltern müssen sich nun verabschieden. Es fällt ihnen schwerer als ihr. Dann nimmt sie den Koffer und geht in ihr neues Heim. Sie wird überschwänglich empfangen. Namen fliegen durch die Luft. Sie kann sie sich gar nicht so schnell alle merken, doch innerhalb weniger Augenblicke gehört sie dazu. Niemand macht sich über sie lustig. Niemand guckt sie schräg an. Eine Riesenlast fällt ihr von den Schultern. Sie ist angekommen. Sie ist eine von vielen. Von Menschen, die träumen können, die verrückte Ideen haben, die ein kleines bisschen anders sind. Das ist ein besonderer Ort, der ihr guttut. Wie schön, dass sie sich getraut hat.
In den nächsten Tagen lässt sie sich aufsaugen von der Theaterwelt, sie taucht ganz tief in sie ein und wagt mit einem Mal vollkommen unerwartete Dinge: vor anderen zu sprechen, vor ihnen zu spielen. Es ist alles so einfach. Die Arbeit in der AG erfüllt sie. Ebenso die Abende im Theater-Café, wo sie beinahe wahllos Freundschaften schließt.
Und dann ist da noch die Kleinkunstbühne! Wer will, kann dort fünf Minuten lang etwas darbieten. Am dritten Tag meldet sie sich dafür an. Sie schreibt eigene Lieder und will eines vorsingen. Wieder fühlt sie sich wie bei der Hinfahrt. Sie schließt die Augen und betet: »Lieber Gott, lass mich nicht im Stich. Hilf mir, bitte.«
Wieder hat sie fast ein schlechtes Gewissen, weil sie erst seit der Hinfahrt wieder an Gott gedacht hat. Ihr ist auch klar, dass ein Gebet keine Bestellung ist. Aber auf der Hinfahrt hat es ihr geholfen. Warum nicht jetzt auch?
Da wird sie schon aufgerufen. Der Weg zur Bühne scheint ihr unendlich lang. Schließlich steht sie oben. Das Licht ist so hell, dass sie niemanden erkennen kann. »Ich möchte ein Lied singen, das ich vor einiger Zeit geschrieben habe. Es heißt ›Wach auf!‹.«
Sie stimmt die Gitarre, verspielt sich beim ersten Akkord, setzt noch einmal neu an. Doch dann ist die Aufregung weg. Sie singt mit aller Leidenschaft. Während der letzte Ton verklingt, wird es ganz still. Inka schluckt. »Und jetzt?«, fragt sie sich. Jetzt folgt donnernder Applaus von allen Seiten. Sie hat das Gefühl, um zehn Zentimeter zu wachsen.
Später geht sie mit den anderen zur täglichen Abendandacht. Nach all dem Turbulenten, Lauten, Verrückten genießt sie diese Zeit des Aufatmens. Sie sitzen auf Decken im Kreis. Kerzen brennen. Die Teamerin vorne erzählt eine Geschichte. Zwei Männer sind unterwegs von Jerusalem zu einem Dorf, namens Emmaus. Sie haben die Kreuzigung Jesu miterlebt und sind traurig. Unterwegs treffen sie einen Fremden, der mit ihnen mitgeht. Ihm erzählen sie alles. Der Fremde hat Erklärungen. Er kennt sich gut aus in den Heiligen Schriften. Sie hören ihm gerne zu. So laden sie ihn zum Abendessen ein. Sie sitzen zu Tisch. Der Fremde nimmt das Brot, dankt, bricht es und reicht es ihnen.
In diesem Moment erkennen sie, wen sie vor sich haben: den Auferstandenen, der vor ihren Augen verschwindet wie in einem Traum. Sie hätten ihn eher erkennen müssen, sagen sie sich.
»Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete?«
Inka zuckt zusammen. Es ist, als wäre diese Frage ein Schlüssel, der ihr Innerstes aufschließt. In den letzten Tagen hat ihr Herz gebrannt, so stark wie noch nie. Sie hat ihr Herz endlich ausgepackt aus all den dichten Lagen der Enttäuschung und Mutlosigkeit. Sie hatte es so stark geschützt, dass es zuletzt kaum mehr etwas fühlte.
Das ist nun anders. Sie versteht, wie es den Männern ergangen sein muss auf ihrem Weg. Sie hatten sich schon aufgegeben und ihren Traum begraben, bis sie den Fremden auf dem Weg trafen. Und auch sie hat das Gefühl, dass sie nicht allein unterwegs ist. Das liegt nicht nur an den neuen Freundinnen. Sie fühlt sich beschenkt. Es hat sich so viel verändert in diesen wenigen Tagen. Sie kann es noch gar nicht richtig fassen.
Als am Sonntag ihre Eltern kommen und sie fragen, wie es war, sagt sie nur: »Im nächsten Jahr komme ich wieder.« Danach kuschelt sie sich auf die Rückbank. Manchmal schaut sie aus dem Fenster, doch die meiste Zeit hält sie ihre Augen geschlossen und lächelt.
Wolfgang Blaffert
Referent für Theologie, Spiritualität, Jugendforschung, Fortbildung, Kulturarbeit und Übergänge Konfirmandenarbeit – Jugendarbeit
im Landesjugendpfarramt in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers