Andachten aus Bibel AnDenken
Die Reihe "Bibel AnDenken" erscheint in gemeinsamer Herausgeberschaft der aej mit der Konferenz der Landesjugendpfarrerinnen und Landesjugendpfarrer in der Bundesrepublik Deutschland. Sie bietet Andachtsentwürfe, Materialien für Gruppenstunden und Freizeiten, Lieder, Informationen zur Jahreslosung und Monatssprüchen.
Die Mehrheit kann mich mal
Andacht
»Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, wenn sie im Unrecht ist.« Mit diesem Satz aus Ex 23,2 sagt uns jemand sehr deutlich, dass wir etwas nicht tun sollen. »Du sollst nicht!«
Eigentlich mag ich es nicht, wenn mir jemand sagt, was ich tun und was ich lassen soll. Jedenfalls nicht, wenn es so daherkommt, als sei kein Widerspruch erlaubt.
Andererseits ist mir das, was dann kommt, sehr sympathisch. Ich mochte mich noch nie gerne der Mehrheit anschließen, nur weil es die Mehrheit ist. Und wenn ich gar das Gefühl habe, dass die Mehrheit im Unrecht ist, dann finde ich es richtig gut, mich aus dieser Mehrheit zu verabschieden.
Sie nerven mich, diese Gruppen, in denen scheinbar alles klar ist und die nicht über den Tellerrand schauen. Diese Gruppen, die mit sich selbst und ihrer Meinung zufrieden sind und gar nicht begreifen, dass es fast immer andere Wahrheiten gibt, die genauso richtig und wichtig sind wie ihre eigene. Die mit jeder Kleinigkeit missionarisch daherkommen und sich aufdrängen: »Dieses ist richtig, jenes ist falsch – und wenn Du nicht der gleichen Meinung bist, gehörst Du nicht dazu …« Ich finde Leute, ja sogar ganze Institutionen anstrengend, die bestimmen wollen, wie ich rede, welche Ausdrücke ich verwende, in was ich mich hineinzudenken habe und was ich empfinden darf – oder eben nicht.
Ich will sagen: Wir sollten nicht zu schnell von Recht und Unrecht reden und ausgrenzen, wenn es vor allem um Meinungen, Lebens- und Sprachstile geht. Und nachdem das einmal klargestellt ist, kann ich mich nun auch ein bisschen befreiter dem Bibelwort zuwenden …
Es bezieht sich in seinem Ursprung auf öffentliche Gerichtsverfahren, in denen über das zukünftige Schicksal von Menschen verhandelt wurde. Ist ihnen Unrecht geschehen? Haben sie Unrecht getan? Sind sie falsche Ankläger, die jemandem etwas anhängen wollen? Wird ihnen etwas angehängt? Wie reden die Menschen über sie? Was bleibt hängen, selbst wenn jemand freigesprochen wird? Welche Parteiungen bilden sich? Wer hält zu wem? Und wer behält recht? Erhalte ich auch Recht, wenn alle gegen mich sind?
Wir kennen diese Fragen auch, wenn wir uns in der Öffentlichkeit äußern. Sei es in kleinen oder größeren Gruppen oder in der digitalen Welt. Schnell vervielfältigen sich Vorwürfe und verdichten sich Anschuldigungen. Es bilden sich Mehrheiten, die uns beurteilen und manchmal verurteilen. Und die Mehrheiten können einen erdrücken. Auch oder erst recht dann, wenn das, was sie behaupten, gar nicht stimmt. Und wenn es stimmt, hat man wenig Chancen, neu anzufangen.
Was in der Welt ist, ist in der Welt.
Es ist deshalb immer wichtig sich klarzumachen: Es kommt für mich persönlich gar nicht auf Mehrheiten oder Minderheiten an. Für mich ist wichtig, mich zu vergewissern, dass ich in meiner Sache richtig liege. Und natürlich auch: Wenn Mehrheiten mich bedrängen, mir Hilfe zu suchen und Schutz zu finden.
Und bei Hilfe und Schutz bin ich beim Umkehrschluss. Ich hätte nämlich beinahe vergessen, dass das Bibelwort Aufforderungscharakter hat. Es fordert uns auf, zu helfen und zu schützen. Es soll uns sensibel dafür machen, dass in keiner Situation die Mehrheit ein Zeichen dafür ist, ob jemand etwas richtig oder falsch gemacht hat, ob jemand im Recht oder Unrecht ist. Und dass es immer darauf ankommt, auf den einzelnen Menschen zu schauen. Ohne Rechthaberei, Intoleranz
und Ausgrenzung.
Amen
Uwe Andratschke
Landesjugendpastor in der Bremischen Evangelischen Kirche