Andachten aus Bibel AnDenken

Die Reihe "Bibel AnDenken" erscheint in gemeinsamer Herausgeberschaft der aej mit der Konferenz der Landesjugendpfarrerinnen und Landesjugendpfarrer in der Bundesrepublik Deutschland. Sie bietet Andachtsentwürfe, Materialien für Gruppenstunden und Freizeiten, Lieder, Informationen zur Jahreslosung und Monatssprüchen.

Cover BA 2024
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Juni 2021
Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Agp 5,29

Andacht Juni 2021

Das seltsame unbehagliche Gefühl in der Magengegend
Da ist diese Mutter, die sagt: »Ich will doch nur dein Bestes! Aber ich werde vor Sorge immer ganz krank, wenn du so lange unterwegs bist! Irgendwann wird mich das noch mal umbringen.« Und die Tochter, die gar nicht weiß, was sie dazu sagen soll, aber ein ganz seltsames unbehagliches Gefühl in der Magengegend hat, wann immer sie diese Worte ihrer Mutter hört – und sie hört diese Worte oft!

Wenn sie mit dem Fahrrad zur Schule fährt, muss sie ihrer Mutter immer eine WhatsApp schreiben, dass sie sicher angekommen ist. Sie tut dies immer schon ein Stück von der Schule entfernt. Wie peinlich, wenn die anderen das mitkriegen würden!

Wenn sie eine Freundin besucht, das Gleiche. Abends weggehen – eine Katastrophe! So viele Tränen vergießt ihre Mutter schon beim ersten Hinweis auf eine Fete in drei Wochen, dass sie oft gar keine Lust mehr hat, hinzugehen. Aber diese Mutter kennt auch Varianten ihrer Sorge. Dann sagt sie: »Ich will doch nur dein Bestes! Aber ich werde vor Sorge ganz krank, wenn du mir erzählen würdest, dass du jetzt schon einen Freund hast! Und wenn du mich dann zur Oma machst … das überlebe ich nicht!« Und wieder ereilt die Tochter dieses seltsame unbehagliche Gefühl in der Magengegend. Darum sagt sie ihrer Mutter auch nicht, dass ein Freund für sie gar kein Thema ist, weil sie ja schon seit einem halben Jahr mit ihrer Freundin sowas von glücklich ist.

Und manchmal sagt diese Mutter auch: »Ich will doch nur dein Bestes! Aber ich werde vor Sorge ganz krank, wenn ich mir so ansehe, wie ihr jungen Leute euch mit diesem Genderkram beschäftigt. Da weiß man gar nicht mehr, wer Männlein und wer Weiblein ist … und dann noch diese Transvestiten! « Und dabei ereilt die Tochter nicht nur das Gefühl in der Magengegend. Sie spürt auch noch einen Kloß in ihrem Hals, der es ihr unmöglich macht, auch nur ein Wort darauf zu entgegnen.

Und wenn sie dann bei ihrer Freundin ist, dann spürt sie den Kloß im Hals nicht mehr und das Gefühl in der Magengegend. Und sie erzählt von ihrer Mutter, und wie sie das alles nervt. Bis eines Tages die Freundin sagt: »Ich will doch nur dein Bestes! Aber das macht mich ganz krank, dass du dich gar nicht wehrst. Du musst mit der Faust auf den Tisch hauen und endlich mal deine Meinung sagen. Das kannst du dir doch nicht bieten lassen.« Und da ist es wieder, dieses seltsame unbehagliche Gefühl in der Magengegend, der Kloß im Hals und dann auch noch Tränen in den Augen. Und ihr wird auf einmal klar, dass sich etwas ändern muss und es nicht so weitergehen kann. Jetzt!

Da schlägt sie mit der Faust auf den Tisch und schreit: »Was denkst du eigentlich, wer du bist, dass du mich so unter Druck setzen kannst? Klar, es geht mir scheiße mit meiner Mutter und ich schaffe es nicht, mich zu wehren. Aber ich will nicht so leben, dass ich immer unter Druck bin – weder von meiner Mutter noch von dir.« Dann steht sie auf, nimmt ihre Tasche und geht, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Und beim Gehen schlägt sie die Tür so laut zu, dass man es im ganzen Haus hören kann. Sie fährt mit dem Fahrrad durch die Gegend – drei Stunden lang, ohne auch nur eine einzige WhatsApp an die Mutter zu schreiben und auch keine an die Freundin. Sie fährt und weint und denkt nach und manchmal spürt sie dabei den Kloß im Hals oder das seltsame unbehagliche Gefühl in der Magengegend und manchmal beides. Und dann fängt es auch noch an zu regnen, aber sie fährt weiter. Man kann nicht mehr unterscheiden zwischen dem Regen und den Tränen auf ihrem Gesicht.

Als sie dann schließlich nach Hause kommt, ist es schon längst dunkel. Die Mutter erwartet sie schon mit sorgenvollem Gesicht. Als sie anfangen will zu sprechen – und das tut sie mit einem Gesichtsausdruck, dass die Tochter schon weiß, dass der erste Satz sein wird: »Ich will doch nur dein Bestes!«, da schlägt sie mit der Faust auf den Tisch. Die Mutter zuckt zusammen und schweigt. Und dann schreit die Tochter: »Aber es ist nicht mein Bestes! Ich will ein Leben mit Spaß und mit Liebe und mich dafür einsetzen, dass sich diese Welt verändert! Ich will eine Freundin und keinen Freund. Vielleicht will ich mal Kinder, aber das weiß ich jetzt noch gar nicht. Ich will mit dem Rad zur Schule fahren und nicht jedesmal ’ne WhatsApp schreiben, wenn ich da bin. Und ich will nicht, dass du dir Sorgen machst und mich mit den Sorgen dauernd unter Druck setzt.«

Und plötzlich ist es weg, das seltsame unbehagliche Gefühl in der Magengegend und der Kloß im Hals und auch die Tränen. Sie fühlt sich stark und mutig, und sie kann sogar lächeln. Mit ihrer Mutter bleibt es schwierig – aber das seltsame unbehagliche Gefühl in der Magengegend ist verschwunden und auch der Kloß im Hals. Als sie an diesem Abend in ihr Zimmer geht, sieht sie auf ihrem Smartphone 14 unbeantwortete Anrufe und 27 WhatsApps – alle von der Freundin. Viele Herzen sind zu sehen und »Ich liebe dich!« und »Entschuldigung!« und »Wie dumm von mir!«. Sie haben dann ganz lange miteinander telefoniert und sich für den nächsten Tag wieder verabredet.

Gernot Bach-Leucht
Landesjugendpfarrer in der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau

 

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